Vor 40 Jahren hieß es in Harbke:
„VORSICHT AN DER
BAHNSTEIGKANTE...
die Straßenbahn in
Richtung Absetzer fährt ein!“
Bekanntlich hatte der kleine Grenzort Harbke 1954/55 einen
Reichsbahn-Personenzug-Anschluss nach Marienborn mit einem Bahnhof am Kraftwerk-
Aber eine Straßenbahn?
Zugegeben, gab der Bauboom in den 50er Jahren mit
Kulturhaus, Betriebsambulatorium und Verkaufszeile im Zentrum des Ortes sowie
einem großangelegten Wohnungsbau der Gemeinde einen Hauch von städtischem
Charakter – aber eine Straßenbahn?
Tatsächlich sorgte eine pfiffige Idee aus den Reihen der
Harbker Tagebaubelegschaft dafür, dass sich die Betriebsführung 1976
entschloss, einen ausgedienten Straßenbahn-Triebwagen von den Halberstädter
Verkehrsbetrieben zu beschaffen und für einen Personentransport im hiesigen
Braunkohlentagebau einzusetzen.
Grundgedanke war die schnelle und bequeme Bewältigung der
langen Anmarschwege der Geräte-, Gleis- und Kippenbesatzungen zu ihren
Einsatzorten. Diese lagen oft mehrere Kilometer vom Werkseingang entfernt und
konnten bisher nur zu Fuß über steile Treppenanlagen und unwegsame Trampelpfade
erreicht werden.
Ein Mitfahren auf den E-Loks der Abraum- und Kohlezüge war
allgemein verboten. Darüber hinaus ließ die Lage des Tagebaus unmittelbar an
der Grenze zur BRD es nicht zu, Fahrstraßen für andere Personentransportmittel,
wie Busse oder LKW’s mit Pritsche einzurichten. Im Gegensatz zu den übrigen
Tagebauen hatte Harbke hierbei den Status einer besonderen Sicherheit.
Mit der Beschaffung und dem Umbau des Straßenbahnwagens, dem
übrigens 1 Jahr später ein zweiter folgte, ging ein lang gehegter Wunsch der
Schichtbelegschaften in Erfüllung, jederzeit und rechtzeitig, bequem und bei
jeder Witterung Bagger und Absetzer sowie Strossenunterkünfte zu erreichen.
Um das zu verwirklichen wurden die beschafften Triebwagen
auf jeweils zwei Drehgestelle der Spurweite 900 mm gesetzt und mit einem
speziellen Bremssystem ausgerüstet. Auch die Fahrzeuginnen- und
Außenbeleuchtung sowie die Zugvorrichtungen wurden geändert. Als Zugmittel
diente eine E-Lok, die sonst die Kohle- und Abraumwagen beförderte.
Bei den Personentransporten musste ein Zugbegleiter als
Verantwortlicher dabei sein, der als äußeres Kennzeichen eine rote Schärpe
trug.
Nach Beantragung aller erforderlichen bergbaubehördlichen
Genehmigungen konnte am 20. September 1976 die erste Probefahrt ohne
Beanstandungen stattfinden.
Anfangs belächelt, besaß ab jetzt der Tagebau ein 30
Personen fassendes Transportfahrzeug, dass die Wegezeiten wesentlich verkürzte.
Diese Form des Personentransports, die auch die Bezeichnung
„E-Lok mit angehängtem Straßenbahnwagen“ erhielt, entwickelte sich recht
positiv, auch wenn man aus Sicherheitsgründen während der Transportfahrten den
übrigen Werkbahnbetrieb innerhalb der jeweiligen Abschnitte ruhen lassen
musste.
Mitte 1977 wurde der zweite Triebwagen von Halberstadt
erworben und in den Harbker Werkstätten umgebaut, damit auch Reparaturkolonnen
und Gleisunterhaltungsbrigaden zu ihren Einsatzorten gebracht werden konnten.
Ein Fahrplan sorgte für den reibungslosen Hin- und
Rücktransport und provisorische Bahnsteige auf der Rasensohle und den Absetzer-
bzw. Baggerstrossen für eingefahrloses Ein- und Aussteigen.
Der so inzwischen zur Gewohnheit gewordene Personentransport
konnte bis Ende 1985 aufrecht erhalten werden.
Das Auslaufen des Tagebaues (Erschöpfung der Kohlevorräte)
bis zum Jahre 1989 bedeutete auch das Ende dieses außergewöhnlichen
Personentransportes.
Während der eine Wagen zwischenzeitlich als mobiles
Stellwerk genutzt wurde, sollte auf den zweiten noch eine unerwartete letzte
Fahrt warten.
Einer Gruppe von Straßenbahnfreunden aus Leipzig und
Halberstadt war diese abenteuerliche Form der Personenbeförderung zu Ohren
gekommen. In gegenseitiger Absprache mit dem Braunkohlenwerk konnte am 16. März
1991 noch eine letzte Fahrt mit E-Lok und Straßenbahnwagen zwischen dem Tagebau
und der Brikettfabrik Völpke organisiert werden, die bei den Gästen große
Begeisterung hervorrief. In einem Artikel des STRASSENBAHN-MAGAZINS Nahverkehr
4/2004 beschrieben sie, welche Eindrücke die Fahrt an sich und das Befahren und
Besichtigen der Umgebung mit ehemaligen Grenzzäunen, Sperranlagen und
verlassenen Wachtürmen bei ihnen hinterlassen hat.
Rudolf und Roland Rohr
Harbke
Foto:
Fast 10 Jahre lang fand dieses Gespann im Tagebau
Wulfersdorf bei Harbke als Personentransportmittel Verwendung
Foto: Jens Karkuschke