Sonntag, 21. Februar 2016

Straßenbahn in Harbke

Vor 40 Jahren hieß es in Harbke:

„VORSICHT AN DER BAHNSTEIGKANTE...
die Straßenbahn in Richtung Absetzer fährt ein!“


Bekanntlich hatte der kleine Grenzort Harbke 1954/55 einen Reichsbahn-Personenzug-Anschluss nach Marienborn mit einem Bahnhof am Kraftwerk-

Aber eine Straßenbahn?
Zugegeben, gab der Bauboom in den 50er Jahren mit Kulturhaus, Betriebsambulatorium und Verkaufszeile im Zentrum des Ortes sowie einem großangelegten Wohnungsbau der Gemeinde einen Hauch von städtischem Charakter – aber eine Straßenbahn?

Tatsächlich sorgte eine pfiffige Idee aus den Reihen der Harbker Tagebaubelegschaft dafür, dass sich die Betriebsführung 1976 entschloss, einen ausgedienten Straßenbahn-Triebwagen von den Halberstädter Verkehrsbetrieben zu beschaffen und für einen Personentransport im hiesigen Braunkohlentagebau einzusetzen.

Grundgedanke war die schnelle und bequeme Bewältigung der langen Anmarschwege der Geräte-, Gleis- und Kippenbesatzungen zu ihren Einsatzorten. Diese lagen oft mehrere Kilometer vom Werkseingang entfernt und konnten bisher nur zu Fuß über steile Treppenanlagen und unwegsame Trampelpfade erreicht werden.
Ein Mitfahren auf den E-Loks der Abraum- und Kohlezüge war allgemein verboten. Darüber hinaus ließ die Lage des Tagebaus unmittelbar an der Grenze zur BRD es nicht zu, Fahrstraßen für andere Personentransportmittel, wie Busse oder LKW’s mit Pritsche einzurichten. Im Gegensatz zu den übrigen Tagebauen hatte Harbke hierbei den Status einer besonderen Sicherheit.

Mit der Beschaffung und dem Umbau des Straßenbahnwagens, dem übrigens 1 Jahr später ein zweiter folgte, ging ein lang gehegter Wunsch der Schichtbelegschaften in Erfüllung, jederzeit und rechtzeitig, bequem und bei jeder Witterung Bagger und Absetzer sowie Strossenunterkünfte zu erreichen.

Um das zu verwirklichen wurden die beschafften Triebwagen auf jeweils zwei Drehgestelle der Spurweite 900 mm gesetzt und mit einem speziellen Bremssystem ausgerüstet. Auch die Fahrzeuginnen- und Außenbeleuchtung sowie die Zugvorrichtungen wurden geändert. Als Zugmittel diente eine E-Lok, die sonst die Kohle- und Abraumwagen beförderte.
Bei den Personentransporten musste ein Zugbegleiter als Verantwortlicher dabei sein, der als äußeres Kennzeichen eine rote Schärpe trug.

Nach Beantragung aller erforderlichen bergbaubehördlichen Genehmigungen konnte am 20. September 1976 die erste Probefahrt ohne Beanstandungen stattfinden.
Anfangs belächelt, besaß ab jetzt der Tagebau ein 30 Personen fassendes Transportfahrzeug, dass die Wegezeiten wesentlich verkürzte.

Diese Form des Personentransports, die auch die Bezeichnung „E-Lok mit angehängtem Straßenbahnwagen“ erhielt, entwickelte sich recht positiv, auch wenn man aus Sicherheitsgründen während der Transportfahrten den übrigen Werkbahnbetrieb innerhalb der jeweiligen Abschnitte ruhen lassen musste.

Mitte 1977 wurde der zweite Triebwagen von Halberstadt erworben und in den Harbker Werkstätten umgebaut, damit auch Reparaturkolonnen und Gleisunterhaltungsbrigaden zu ihren Einsatzorten gebracht werden konnten.
Ein Fahrplan sorgte für den reibungslosen Hin- und Rücktransport und provisorische Bahnsteige auf der Rasensohle und den Absetzer- bzw. Baggerstrossen für eingefahrloses Ein- und Aussteigen.

Der so inzwischen zur Gewohnheit gewordene Personentransport konnte bis Ende 1985 aufrecht erhalten werden.
Das Auslaufen des Tagebaues (Erschöpfung der Kohlevorräte) bis zum Jahre 1989 bedeutete auch das Ende dieses außergewöhnlichen Personentransportes.

Während der eine Wagen zwischenzeitlich als mobiles Stellwerk genutzt wurde, sollte auf den zweiten noch eine unerwartete letzte Fahrt warten.

Einer Gruppe von Straßenbahnfreunden aus Leipzig und Halberstadt war diese abenteuerliche Form der Personenbeförderung zu Ohren gekommen. In gegenseitiger Absprache mit dem Braunkohlenwerk konnte am 16. März 1991 noch eine letzte Fahrt mit E-Lok und Straßenbahnwagen zwischen dem Tagebau und der Brikettfabrik Völpke organisiert werden, die bei den Gästen große Begeisterung hervorrief. In einem Artikel des STRASSENBAHN-MAGAZINS Nahverkehr 4/2004 beschrieben sie, welche Eindrücke die Fahrt an sich und das Befahren und Besichtigen der Umgebung mit ehemaligen Grenzzäunen, Sperranlagen und verlassenen Wachtürmen bei ihnen hinterlassen hat.


Rudolf und Roland Rohr
Harbke



Foto:
Fast 10 Jahre lang fand dieses Gespann im Tagebau Wulfersdorf bei Harbke als Personentransportmittel Verwendung

Foto: Jens Karkuschke